RALPH MÜLLER
Literatur der Leser und Literatur der Interpreten
Zur Arbeitsteilung von Kognitiver Poetik und Erklärender Hermeneutik
Dieser Beitrag vergleicht die literaturtheoretischen Grundannahmen der Erklärenden Hermeneutik und der Kognitiven Poetik. Während Erklärende Hermeneutik Standards eines textwissenschaftlichen Lesens und Interpretierens formuliert, orientiert sich die Kognitive Poetik am typischen (gewissermaßen "spontanem") Verhalten von Leserinnen und Lesern. Trotz dieser literaturtheoretischen Gegensätze gibt es Gemeinsamkeiten: Sowohl Erklärende Hermeneutik als auch Kognitive Poetik teilen ähnliche hohe Ansprüche bezüglich der Basis-(Text-)Analyse. Allerdings erklärt der literaturtheoretische Ausgangpunkt der Kognitiven Poetik nur ungenügend, wie eine gründliche Textanalyse unter den Prämissen von spontanem Lesen, das typischerweise nicht besonders aufmerksam ist, möglich sein sollte. Vielmehr bietet die Erklärende Hermeneutik eine solidere Grundlage um textwissenschaftliche Standards für die Textanalyse zu formulieren, da sie prinzipiengeleitetes wissenschaftliches Vorgehen beschreibt. Demgegenüber bietet die Kognitive Poetik die Möglichkeit einer funktionalen Textanalyse, die die potenziellen Wirkungen von Textelementen erfasst.