Mythosforschung
Der Bereich Mythosforschung besteht – wie die beiden anderen Bereiche – aus einem wissenschaftlichen und einem studentischen Forum. Zu ihm gehören die stoff- und motivgeschichtliche Mythosforschung und die Erforschung mythischen Denkens. Hinzu kommen wissenschaftliche Fragestellungen, welche mit einem erweiterten Mythosverständnis zusammenhängen.
Die Literaturwissenschaft beschäftigt sich seit langer Zeit mit der literarischen Verarbeitung von so genannten Mythen, vorrangig aus dem Kontext der griechischen und römischen Kultur. Man spricht etwa vom Herakles-, vom Orpheus- und vom Medea-Mythos. Unter Mythen können hier bestimmte Stoff- und Motivkomplexe verstanden werden, die in einer bestimmten Kultur (z.B. der griechischen, ägyptischen, aztekischen) entwickelt worden sind. Einige dieser Mythen haben später das Interesse von Schriftstellern gefunden, welche neue Sinnbesetzungen des jeweiligen Stoff- und Motivkomplexes hervorgebracht haben und weiterhin hervorbringen. Die Tradition der stoff- und motivgeschichtlichen Mythosforschung wird von vielen Literaturwissenschaftlern auch in der Gegenwart fortgesetzt; dabei bringen sie auch neuere literaturtheoretische und methodologische Ansätze zum Einsatz.
Disziplinen wie die Philosophie und die Ethnologie befassen sich seit längerem mit der Erforschung des Denkens früher, archaischer Kulturen, mit dem so genannten mythischen Denken. Darunter ist eine bestimmte Form der Weltanschauung zu verstehen, die in unterschiedlichen Varianten in vielen Kulturen anzutreffen ist. Diese Weltsicht nimmt ein Wirken numinoser Mächte an und weist eine spezifische Raum-, Zeit- und Kausalitätsauffassung auf. Häufig wird die polytheistische Weltsicht als mythisch bezeichnet. Schriftsteller können sich in ihren Texten auch auf Formen mythischen Denkens beziehen, indem sie z.B. eine Handlung gemäß der mythischen Denkweise anlegen oder eine Figur mit einer mythischen Weltanschauung ausstatten.
Weitere mythosbezogene Arbeitsfelder ergeben sich, wenn man berücksichtigt, wie Wörter wie "Mythos" und "mythisch" heutzutage verwendet werden. Dieser nichttraditionelle Sprachgebrauch lässt sich mit wissenschaftlichen Fragestellungen verbinden. Das gilt z.B. für die folgenden Bedeutungslinien: Mythos = Irrtum, Vorurteil. Unter einem Mythos wird hier eine falsche, unzutreffende Sicht eines Sachzusammenhangs verstanden. Dem Mythos wird die Wahrheit bzw. die mit dem aktuellen Erkenntnisstand in Einklang stehende Sicht der Dinge gegenübergestellt. Mythos = Verklärung, Überhöhung. Unter einem Mythos wird hier eine Sicht von X verstanden, die X auf diese oder jene Weise geschönt oder verklärend darstellt. Politischen Führern etwa werden häufig Taten zugeschrieben, die sie nach dem verfügbaren Informationsstand gar nicht verrichtet haben, sowie positiv bewertete Charaktereigenschaften, die sie nicht aufweisen. Mythos = Vorbild-, Identifikations- bzw. Symbolfigur. Unter einem Mythos ist hier zu verstehen, dass X für eine bestimmte Gruppe eine Vorbild-, Leit- oder auch Symbolfigur darstellt. Mythos = Ruhm, Berühmtheit. Unter einem Mythos ist hier zu verstehen, dass X (und das können nicht nur Personen, sondern auch Gegenstände wie bestimmte Hotels und Straßen sein) berühmt, weithin in einem positiven Sinn bekannt ist. "Mythos" verweist manchmal auf ein ruhmreiches Ereignis der Vergangenheit, an das man sich in der Gegenwart erinnern sollte. Der Gegenstandsbereich der weit verstandenen, auch an die nichttraditionellen Wortbedeutungen anknüpfenden Mythosforschung im Allgemeinen und ihres literaturwissenschaftlichen Teils im Besonderen ist also sehr umfangreich.
Sowohl im wissenschaftlichen als auch im studentischen Forum können Beiträge zur Mythosforschung aller Art veröffentlicht werden.