STEFAN OEHM
Was gibt es in der Kunst zu 'verstehen'?
Ob Theater-, Literatur-, Kunst- oder Musikwissenschaftler*innen, ob Kunstkritiker*innen oder Kurator*innen, Museumsleiter*innen oder der kulturbeflissene Otto Normalkonsument – sie alle sprechen gerne völlig unbefangen vom Verstehen dieses oder jenes Kunstwerks, obgleich niemand von ihnen weder imstande ist, auch nur halbwegs verbindlich zu sagen, was eigentlich ein Kunstwerk ist resp. wann etwas ein solches ist, noch ob es bei ihm etwas zu verstehen gibt resp. jemand etwas mit ihm zu verstehen geben will: Der Begriff "verstehen" wird im Kontext der Kunst nicht systematisch reflektiert, sondern, wie der Begriff "Kunst" selber, über alle künstlerischen Gattungen, Werke, Künstler*innen, Epochen und Kulturen hinweg zumeist gänzlich undifferenziert verwendet.
In seinem Werk Über die Toleranz schrieb Voltaire 1763: "In dichte Finsternis eingehüllt, streiten wir und schlagen auf gut Glück gegeneinander ein, ohne eigentlich zu wissen, worüber wir streiten. " Ein ähnlicher Eindruck entsteht schnell, wenn man sich die oftmals gegenseitig ausschließenden Deutungen der Kunstwerke in Feuilleton und Wissenschaft anschaut. Da beharrt der eine wie der andere auf seiner Interpretation, reklamiert, selbst bei Artefakten anderer Epochen oder Kulturen, gerne die Deutungshoheit für sich. Behauptet zu verstehen – ja was eigentlich? Wissen wir eigentlich, worüber wir streiten, wenn wir sagen, dass wir ein Kunstwerk zu verstehen suchen? Mithilfe des Konzepts der Dichten Beschreibung des Ethnologen Clifford Geertz sowie des Modells der Bedeutungsexplikation des Historikers Quentin Skinner, das auf die je spezifische Kontextualität in der Synchronie rekurriert und dabei Erkenntnisse der Sprechakttheorie nutzt, versucht der Aufsatz etwas Licht in diese dichte Finsternis zu bringen. Und zu zeigen, dass es bei dem, was wir in schöner hellenistischer Tradition so unbefangen wie übergriffig Kunst nennen, weniger um ein Verstehen, sondern um ein Beeinflussen geht – um die perlokutionäre Kraft: A will B durch x zu etwas bewegen.