STEPHANIE HESS
Über die Einheit von Leben und Tod in Christa Wolfs Medea
Das Schicksal der Medea fand bereits in der antiken Literatur starken Widerhall. Schon Hesiod erwähnt Medea in seiner "Theogonie". Die später entstandenen Tragödien des Sophokles und des Aischylos gingen verloren. Erhalten blieb dafür die an den Dionysien des Jahres 431 v. Chr. uraufgeführte Tragödie des Euripides, welche mit Medeas Ausweisung aus Korinth beginnt und mit dem Mord an ihren eigenen Kindern endet. Auch der Römer Seneca bearbeitete den Medea-Stoff ca. um 40 n. Chr., wobei er ausführlich die Hexenkünste der außer sich geratenen Frau schildert und Jason als bedauernswertes Opfer erscheinen lässt. Bis in die Gegenwart ist der Medea-Stoff ein häufig rezipierter Bühnen-, Prosa- und Lyrikstoff, der immer wieder neue Bearbeitungen zulässt.
Christa Wolf greift mit ihrem 1996 erschienen Roman Medea – Stimmen auf den antiken Medea-Mythos zurück, ohne dabei den Anspruch zu erheben, ihn "unverfälscht" nachzuerzählen. Obwohl sich die Handlung ihres Romans teilweise auf die historischen Elemente des Euripides-Textes stützt, widerspricht sie diesem an entscheidenden Stellen und hinterfragt den Mythos Medea. Dabei befreit sie ihren Text von zeitlichen und örtlichen Konventionen, indem sie die Frage nach der Begründung gesellschaftlicher und nationaler Ordnung permanent in den Vordergrund ihrer Überlegungen rückt.