ANNELIE SCHMIDT
Basis-Interpretation: Sexualität und Religion bei Gottfried Keller am Beispiel seiner Erzählung Die Jungfrau und die Nonne
Es ist das Tabuthema des Christentums schlechthin: die sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau als höchst irdischer Ausdruck von Liebe. Bis in die Moderne hinein war der erhobene Zeigefinger der Kirche immer dabei, wenn es darum ging, Geschlechtlichkeit auszuleben, ein schlechtes Gewissen der ständige Begleiter fortpflanzungswilliger Erdenbewohner. Insbesondere der Frau wurden eigene geschlechtliche Bedürfnisse vehement abgesprochen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann dieses Weltbild ernsthaft zu bröckeln.
Umso mehr versetzt uns Gottfried Keller heute ins Staunen, wenn wir seine Erzählung Die Jungfrau und die Nonne aus dem 19. Jahrhundert lesen. Dort entpuppt er sich als Befürworter eines progressiven, geradezu modernen Verhältnisses von Mann und Frau. Dabei gelingt ihm ein doppeltes Kunststück: Sexualität und Religion stehen versöhnt nebeneinander – exemplifiziert an einem weiblichen Lebensentwurf.