DENNIS SÖLCH
Odysseus in der Philosophie. – Zur Epigenesis einer mythologischen Gestalt
Die Philosophie hat im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder auf die mythische Gestalt des Odysseus zurückgegriffen. Als archetypische Figur dient der homerische Held dabei nicht nur der bloßen Illustration unterschiedlicher Argumente, sondern erfährt in der schier unerschöpflichen Rezeptionsvielfalt eine kontinuierliche Epigenesis.
Der Artikel untersucht die Rezeptionsgeschichte des Odysseus mit Blick auf die Vielfalt der philosophisch motivierten Bezugnahmen. Angefangen bei Platon und den christlichen Denkern des Mittelalters, über die Moralphilosophie der Neuzeit, bis zur Philosophie des 20. Jahrhunderts wird deutlich, wie die epische Schilderung Homers ihre Ergänzung und Fortsetzung in der (philosophischen) Rezeption findet, während gleichzeitig die Philosophie durch den fortwährenden Rekurs auf die Odysseusgestalt an Facettenreichtum gewinnt.
Besonderes Augenmerk gilt dabei den Schriften von Alfred North Whitehead sowie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, deren Ausführungen Odysseus in enge Beziehung zum Vernunftbegriff setzen. Während Whitehead das Gegensatzpaar Odysseus/Platon motiviert, um den Begriff der Vernunft zu differenzieren, reflektieren Horkheimer und Adorno den Archetypus sowohl auf der Ebene der Vernunftgenese als auch auf der des gesellschaftlichen Vernunftmissbrauchs. Im Spannungsfeld der unterschiedlichen Bezugnahmen auf die Odysseusgestalt in der abendländischen Philosophie zeigen sich gleichermaßen die Kontinuität der Rezeptionsgeschichte wie auch die Unabschließbarkeit der Interpretation des Mythos.